27. April 2024

Kompass ohne Norden von Neal Shusterman

Neal Shusterman: Kompass ohne Norden, Hanser Verlag, 2018.

Caden hält sich für einen normalen Jungen. Doch sein Verstand ist ein krankhafter Lügner, der sich auf fantastische Reisen begibt. Manchmal befindet Caden sich auf dem Weg zum tiefsten Punkt der Erde im Marianengraben, auf einem Schiff, auf dem die Zeit seitlich läuft wie eine Krabbe, verwittert von Millionen Fahrten, die bis in die finstere Vergangenheit zurückreichen. Und in der Realität lässt Cadens Verstand harmlose Dinge wie einen Gartenschlauch zur tödlichen Gefahr werden. Als die Grenze zwischen realer und fantastischer Welt verschwimmt, begreift Caden: In den Tagen der Bibel hätte er vermutlich als Prophet gegolten, doch heute lautet die Diagnose: Schizophrenie. (Klappentext, Kompass ohne Norden)

Titel: Kompass ohne Norden (Challenger Deep) Autor: Neal Shusterman Verlag: Hanser (Quill Tree Books) Seitenzahl: 352 (320) Genre: Jugendbuch Alter: 14-17 Erste Aufl.: 20. August 2018 (21. April 2015) Ausgaben: Hardcover, Taschenbuch, E-Book, Hörbuch (ENG) ISBN: 978-3446260467 (HC), 978-3423627191 (TB) Sonstiges: Nachwort von Neal Shusterman

Über den Autor von Kompass ohne Norden

Neal Shusterman wurde am 12. November 1962 in Brooklyn (New York) geboren und ist dort aufgewachsen. Schon in jungen Jahren war er ein begeisterter Leser. Mit 16 zog Neal Shusterman mit seiner Familie nach Mexico City. Später studierte er an der Universität von Kalifornien Psychologie und Theaterwissenschaften. Inzwischen gehört er zu den bekanntesten Jugendbuchautoren der USA, der mit seinen Büchern bereits viele Preise gewonnen und internationale Anerkennung gewonnen hat. Zu seinen erfolgreichsten Büchern gehören unter anderem die Vollendet-Reihe und das Jugendthriller Dry, der auch in Deutschland für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2020 nominiert wurde. Neal Shusterman lebt und schreibt in Südkalifornien.

Challenger Deep wurde 2015 mit dem National Book Award ausgezeichnet. Die deutsche Übersetzung Kompass ohne Norden gewann den Deutschen Jugendliteraturpreis 2018 der Jugendjury.

Meine Meinung zu Kompass ohne Norden

Was will das Buch Kompass ohne Norden erreichen?

"Challenger Deep" ist die englische Ausgabe von "Kompass ohne Norden".
Neal Shusterman: Challenger Deep, US-Hardcover Harper Teen (2015)

Die englische Ausgabe von Kompass ohne Norden ist bereits im Jahr 2015 erschienen und thematisiert Neal Shustermans persönliche Erfahrungen mit der Schizophrenie seines zu jener Zeit 16-jährigen Sohnes.

Sein Buch richtet sich an Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen, damit sie einen Eindruck haben und halbwegs begreifen können, was im Kopf eines schizophren Kranken vorgeht und Verständnis dafür entwickeln können. Es richtet sich außerdem an Betroffene, die unter verschiedenen psychischen Krankheiten zu leiden haben und soll ihnen Hoffnung geben, ihre Krankheit stark entgegenzutreten und sie, wenn möglich, heil zu überstehen. Es ist sehr eindringlich geschrieben gewährt einen überaus fesselnden Eindruck über die psychische Belastung, die Krankheiten wie die Schizophrenie den Betroffenen abverlangt.

Die Handlung: real, surreal und eindrucksvoll verworren

Die Handlung in Kompass ohne Norden dreht sich um den 15-jährigen Jungen Caden und spielt sich auf zwei verschiedenen Ebenen ab. Zum einen die klare, reale Ebene von Cadens Bewusstsein, zum anderen die irreale Ebene, wenn sich Caden in seiner „anderen“, surrealen Welt befindet. Dieses zweite Ebene spielt sich auf einem Schiff ab, dass über den Ozean fährt und den Marianengraben zum Ziel hat, den tiefsten Punkt der Erde. Neal Shusterman vermischt in seinem Buch diese surreale Ebene gekonnt mit der Wirklichkeit, Cadens Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik für Jugendliche. Die Verknüpfungen beider Ebenen sind fließend. Zwar erkennt man als Leser recht gut, auf welcher der beiden Ebenen sich Cadens Kopf gerade aufhält, doch bleibt die Frage, welche realen Eindrücke die surrealen in Cadens Gedanken hervorrufen. Erst im Laufe der Handlung erfährt man als Leser, wie reale Einzelheiten von Cadens Gehirn verarbeitet werden, damit sie in seine surreale Welt, die Welt seines anderen Ichs passen. So sieht er andere Kranke der Klinik als Mitglieder der Schiffsmannschaft mit unterschiedlichen Aufgaben und den behandelnden Arzt als Kapitän des Schiffes, der ihm zum Teil schwierige Aufgaben abverlangt. Caden soll im Challengertief (Challenger Deep, Tiefe 10.928 m unter dem Meeresspiegel) bis zum Grund des Marianengrabens tauchen, um die unermesslichen Reichtümer aus gesunkenen Schiffen zu bergen, die dort auf dem Grund liegen sollen. Während am Anfang die Ereignisse an Bord des Schiffes noch viel Raum einnehmen, kommt im Laufe der Handlung immer mehr von der Wirklichkeit hinzu.

Mit vielen interessanten Ideen gestaltet Neal Shusterman beide Bewusstseinsebenen von Caden und verknüpft sie auf ebenso interessante Weise. Wer es liest, bekommt einen guten und lebendigen Eindruck, was sich im Gehirn eines an Schizophrenie erkrankten Menschen abspielen könnte, um seine Reaktionen zu verstehen. Neal Shusterman, der selbst Psychologie studiert hat, basiert sein Buch auch auf die Eindrücke und Berichte seines Sohnes Brendan, bei dem sich die Krankheit mit 16 Jahren erstmals bemerkbar machte. Im Buch finden sich zudem einige von Brendans Zeichnungen aus seiner schlimmsten Krankheitsphase, die den Text passend ergänzen.

Die Charaktere: im Fokus der Handlung steht Caden

In "Kompass ohne Norden" vermischt sich die reale Welt mit der surrealen Traumwelt von Caden.
Foto: Alina Krima

Der 15-jährige Caden steht mit seinen Erlebnissen und Sinneseindrücken im Zentrum der Handlung. Aber auch seine Familie bekommt ihren Platz, denn sie leiden nicht unerheblich unter Cadens Krankheit. Dazu gehören seine Mutter und die jüngere Schwester, die ihn regelmäßig in der Klinik besuchen und sich große Sorgen machen. Neal Shusterman zeigt, dass Schizophrenie auch das Umfeld der Betroffenen stark belastet. In seinem Buch Kompass ohne Norden wird immer auch die Hilflosigkeit der Eltern greifbar. Gerne würden sie Caden helfen, doch können auch sie nur hoffen und sich auf die Medikamente der Ärzte verlassen, die versuchen die Krankheit in den Griff zu bekommen.
In der Klinik lernt Caden auch noch andere jugendliche Patienten kennen, die ihn sowohl in der Realität, als auch in seiner surrealen Welt begleiten und die ihm in seinem Tun eine Orientierungshilfe sind. Dazu gehört zum Beispiel Callie, ein Mädchen, das von großen Ängsten geplagt wird und zu der Caden real und surreal ein ergreifendes romantisches Verhältnis entwickelt. Der Junge Hal ist der Steuermann an Bord des Schiffes und in Wirklichkeit ganz vernarrt in Landkarten und Kursberechnungen. Natürlich spielen auch die Pflegekräfte und Ärzte eine Rolle in Cadens Gedanken. Zwar ist er real von vielen Menschen umgeben, die auch versuchen ihm zu helfen, doch in seiner Gedankenwelt oft auf sich alleine gestellt. Nicht selten muss er an Bord des Schiffes Aufgaben lösen, die ihm seinen vermeintlichen Zielen näher bringen sollen. Oft fühlt er sich bedroht und hat große Ängste Fehler zu machen, die natürlich nicht real sind. Immer wieder gleitet Caden von der Ebene Wirklichkeit in sein zweites ICH ab, wobei das für ihn eine zweite Wirklichkeit darstellt. Neal Shusterman hat es geschickt verstanden Cadens Eindrücke auf beiden Ebenen zu einem großen Ganzen zu verknüpfen.

Der Schreibstil: klar und jugendgerecht

Obwohl ich das englische Original des Buches, Challenger Deep, im Regal stehen habe, habe ich das Buch auf Deutsch gelesen. Ich finde, die Übersetzung ist gut gelungen. Shustermans klarer, verständlicher Schreibstil wurde auch in der deutschen Fassung gut umgesetzt. Es ist die Kunst des Autors, das heikle Thema des Buches in eine auch für Jüngere verständliche Sprache zu vermitteln, was Shusterman gelungen ist. Das ist wohl auch der Grund, weshalb das Buch von Jugendlichen und Erwachsenen gleichermaßen gelesen werden kann, denn der Autor wirft nicht mit Fachvokabular um sich und behält genug Bodenhaftung, auch Cadens gedankliche Ausflüge in sein anderes ICH interessant und spannend zu gestalten. Oft natürlich ziemlich abgedreht wie es nur in einem Traum möglich ist, doch trotzdem irgendwie nachvollziehbar und glaubwürdig. Man akzeptiert beide Welten, so wie sie sind, da man von Cadens schwieriger Situation weiß, und verfolgt mit Interesse die Ereignisse „auf beiden Seiten“.

In "Kompass ohne Norden" ist Caden nicht gänzlich alleine mit sich selbst.

Dass die Lösung nicht ganz einfach ist, zeigt der Schluss des Buches, den manche vielleicht als nicht befriedigend betrachten. Allerdings ist es tatsächlich so, dass es für Schizophrenie keine wirklich völlige Heilung gibt und immer wieder die Gefahr besteht in die Verhaltensweisen der Krankheit zurückzufallen.

Sie über längere Zeit im Griff zu haben und mit ihrem ICH in einer einzigen Welt zu bleiben, ist die große Herausforderung, die sich jeder Kranke in diesem Fall stellen muss. Ärzte können mit Medikamenten dabei behilflich sein. Neal Shusterman hat, wie ich finde, einen guten und akzeptablen Mittelweg gefunden sein Buch zu beenden.

Mein Fazit zu Kompass ohne Norden

4.5 von 5 Sternen „Gut und ansprechend geschrieben.“

Kompass ohne Norden ist ein Buch, das anders ist als die anderen Bücher über psychische Krankheiten. Durch sein Wissen als studierter Psychologe und durch die eigenen Erfahrungen mit der Krankheit in seiner Familie, ist es ihm gelungen ein Buch zu schreiben, das auf eindrucksvolle Weise Einblick gewährt. Mich konnte die Geschichte überzeugen und ich kann das Buch an dieser Stelle nur wärmsten weiterempfehlen.

Jay

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