Der 1-Stern-Bestseller?
Wenn ich hin und wieder in Bücherforen (wie z. B. Goodreads) durch die vielen hundert Rezensionen klicke, dann interessieren mich insbesondere die schlechteren Beurteilungen. 5-Sterne-Rezensionen zu aktuellen und in den Medien hoch und höher gelobten Büchern, die gibt es fast immer wie Sand am Meer. Vielleicht, weil diese Bücher tatsächlich so außerordentlich gut sind, dass man wirklich nur 5 Sterne vergeben kann, oder aber, weil sich manche Rezensenten nicht trauen, einem mehrfach ausgezeichneten Weltbestseller eine schlechte Wertung zu geben. Die Gründe dafür können so verschieden sein, wie die Rezensionen selbst.
Besonders interessant sind für mich dann vor allem die kritischen Stimmen zu einem Buch. Vor allem dann, wenn man darüber nachdenkt es für das eigene Regal zu kaufen. Bei mir sind es deshalb oft die schlechten Bewertungen, die mich dazu bringen ein Buch zu erwerben (oder auch nicht).
Kinderbücher für Erwachsene?
Manchmal gehören Kinder- und Jugendbücher auch zu meiner Lektüre, denn ich mag diese Geschichten gerne. Sie versetzen einen in die Jugendzeit zurück, sie sind oft lustig zu lesen und ihre Handlung ist weitaus weniger kompliziert aufgebaut, als in Büchern für Erwachsene. Ich trenne hier explizit in Kinder- und Erwachsenenliteratur, denn mir fällt auf, dass manche Kritiker diese wichtige Unterscheidung anscheinend gar nicht mehr treffen (wollen). Das bedeutet nun nicht, dass ich an Kinderliteratur nur geringe Anforderungen stelle und ich mich mit jedem farblosen Charakter und jeder platten Story zufriedengebe, nur weil es „nur“ für Kinder geschrieben ist.
Erwachsene Freunde und Kenner von Kinder- und Jugendbüchern wissen, dass diese durchaus tief gängig, emotional, fesselnd und abwechslungsreich sein können. Man sollte bei der Bewertung dieser Bücher nur etwas andere Maßstäbe ansetzen, denn die Zielgruppe ist eine gänzlich andere:
Das Buch hat keine Handlung und ist daher für erwachsene Leser nicht sonderlich reizvoll. (…) Nachdem ich Dreiviertel des Buches gelesen habe, fing ich an, die restlichen Geschichten nur noch querzulesen, da sie ohne Handlung und einander sehr ähnlich waren. Für mich ist dies ein Zeichen für ein schlecht geschriebenes Kinderbuch. (…)
(aus einer Rezension zu Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf)
Die Rezensentin kann Pippi Langstrumpf offensichtlich nicht sonderlich viel abgewinnen. Die Folge ist eine 1-Stern-Bewertung für das sonst äußerst beliebte Kinderbuch. Stellt sich die Frage: Wen hat Astrid Lindgren wohl mit der Geschichte verzaubern wollen? Die Eltern, die Großeltern, die obige Rezensentin oder die Kinder? Erwachsene Leser mögen jetzt sagen, dass Astrid Lindgrens Bücher durchaus auch für Erwachsene geeignet sind. Sehr viele 5-Sterne-Bewertungen zeugen schließlich davon. Oder ist das alles einfach nur Nostalgie, also das Schwelgen in schönen Erinnerungen an die eigene Kindheit, in der Pippi vielleicht unsere große Heldin war? Liegt es eventuell sogar an Astrid Lindgrens Reputation als erfolgreiche Kinderbuchautorin, sodass man ihr ein „schlechtes“ Buch gar nicht zutraut(e)?
Ich sage, Astrid Lindgren und viele andere bekannte Kinder- und Jugendbuchautoren schrieben die Abenteuer ihrer kindlichen Heldinnen und Helden in erster Linie für die Kinder und Jugendlichen und nicht für die Erwachsenen. Daher sollte man versuchen, bei der Bewertung das Buch auf Augenhöhe der Kinder zu betrachten. Natürlich kann man dabei nicht erwarten, dass Pippi in jeder Situation immer das tut, was wir Erwachsenen als richtig empfinden. Sie ist ein Kind und was sie tut (oder auch nicht), sollte in erster Linie den Kindern gefallen, für die das Buch ja hauptsächlich geschrieben wurde.
Aus diesem Grund ist ein Kinderbuch für erwachsene Leser auch nicht immer reizvoll. Die Handlung ist auch nicht in allen Punkten immer logisch, denn für diese Leserschaft wurde es nicht geschrieben. Wäre es anders, dann müsste Pippi wohl jeden Morgen brav in die Schule gehen, damit „mal was aus ihr wird“, der Affe gehört in den Käfig und Pferde absolut nicht ins Haus. Andersherum betrachtet werden wohl Kinder den Büchern für Erwachsene auch nur wenig abgewinnen können. Probiert es aus und gebt einem 10-jährigen Kind einen Wälzer von Tolstoi oder Goethe zu lesen. Es wird sich vermutlich zu Tode langweilen.
Bewertung nicht ganz einfach
Wenn ich daher mal ein Kinderbuch lese und zu rezensieren versuche, dann beurteile ich das größtenteils nach anderen Kriterien, als bei einem Buch für ältere. Folgende Aspekte (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) machen für mich letztendlich ein gutes Kinder-/Jugendbuch aus.
➡ Kann ein Kind im passenden Alter der Handlung überhaupt folgen, ohne dass sie zu kompliziert wird?
➡ Wird die Lebenswelt der Kinder angemessen berücksichtigt?
➡ Kann sich ein Kind (zumindest teilweise) in den Charakteren wiederfinden?
➡ Welche nützlichen Tugenden/Werte vermag die Geschichte zu vermitteln (Freundschaft, Friede, Toleranz, Hilfsbereitschaft, Vertrauen, …)?
➡ Sind die Charakterbeziehungen untereinander erkennbar und die Charaktere anschaulich beschrieben?
➡ Ist die Geschichte abwechslungsreich und spannend?
➡ Ist das Sprachniveau dem Alter der Leser/innen angemessen?
➡ Was kann ein Kind nach Abschluss des Buches für sich persönlich mitnehmen/lernen?
Natürlich sollte auch Erwachsenenliteratur spannend und abwechslungsreich sein, allerdings können Erwachsene es wahrscheinlich eher verkraften, wenn dem einmal nicht so ist, denn gute Bücher leben schließlich auch von anderen Aspekten.
Letztendlich läuft es aber auf die eine schwierige Frage hinaus: Würde das Buch einem Kind gefallen?
Kann man diese Frage mit JA beantworten, hat es in meinen Augen seinen Zweck erfüllt. Diese Einschätzung zu treffen ist bisweilen sehr schwer, aber hey, wir waren alle selbst einmal Kinder.
Wenn uns Pippi Langstrumpf, Ronja Räubertochter, Krabat, Das fliegende Klassenzimmer und Das Sams schon damals gut gefallen haben, warum sollten sie uns heute nicht 4 oder 5 Sterne wert sein? Und wenn wir ganz ehrlich zu uns sind, ist da dann doch recht oft ein großes Stück Nostalgie mit im Spiel, oder?