Ein abgeschiedenes Dorf. Leere Bauernhöfe. Eine aufgelassene Schule. Die Erwachsenen haben nach und nach das Dorf verlassen. Zurückgeblieben sind die Kinder. Sie empfangen Pakete und Geld. Sie kochen, putzen und pflegen die Großeltern und kleinen Geschwister. Scheinbar soll Krieg herrschen rundherum. Als auch der einzige Lehrer das Dorf verlässt, beginnen die Kinder, ihre eigenen Gesetze und Regeln aufzustellen. Was harmlos beginnt, wird rasch zu einem System aus Gewalt und Macht, dem sich alle zu unterwerfen haben. Nur Mila will sich nicht beugen und wird zur Außenseiterin, die bis zum Ende für das Gute kämpft. (Quelle: Buch.de, Wir verlassenen Kinder)
Titel: Wir verlassenen Kinder Autor: Lucia Leidenfrost Verlag: Kremayr und Scheriau Seitenzahl: 192 Genre: Roman Alter: 16+ Erste Aufl.: 04. Februar 2020 Ausgaben: Hardcover, E-Book ISBN: 978-3-218-01208-9 (HC)
Meine Meinung zu Wir verlassenen Kinder
Dieses relativ dünne Buch von Lucia Leidenfrost fiel mir bei Goodreads ins Auge. Irgendjemand hat den Roman zusammen mit William Goldings Der Herr der Fliegen in einem Satz genannt und ich dachte mir, warum nicht mal lesen?
Die Handlung: ein aktueller Hintergrund, aber wenig fesselnd
Die Handlung des Romans spielt in einem kleinen, abgelegenen Dorf irgendwo und zu keiner bestimmten Zeit. Es scheint Krieg zu sein, denn immer wieder verstecken sich die Kinder vor den „blechernen Vögeln“, die über das Dorf hinwegfliegen und nach einem Landeplatz für ihren „Kot“ suchen. Später ist dann auch konkret von Bomben die Rede. Das Dorf könnte sich jedem Land der Welt befinden und es könnte jeder Krieg damit gemeint sein. Diese vage Beschreibung macht Leidenfrosts Roman so allgemeingültig. Von dem Dorf erfährt man sonst nicht allzu viel. Es gibt Nussbäume und einen Dorfweiher zum Baden. Irgendwann war es wohl mal sehr belebt, aber inzwischen sind fast alle Erwachsenen gegangen und nur die Alten, Großmütter und Großväter, sind zurückgeblieben, um ein Auge auf die ebenfalls zurückgelassenen Kinder zu haben. Irgendwann gehen auch die Alten und die Kinder bleiben ganz alleine zurück und müssen schauen, wie sie zurechtkommen.
Das ist auch schon mein erster Kritikpunkt an der Handlung. Es ist nur bedingt glaubwürdig. Ganz ehrlich, welche Eltern und Großeltern würden denn weggehen und die eigenen Kinder alleine und auf sich gestellt zurücklassen? Insbesondere, wenn manche von ihnen noch sehr klein sind. Selbst wenn die Väter in den Krieg ziehen müssen, die Mütter würden sicher alles tun, um in diesen unruhigen und gefährlichen Zeiten mit ihren Kindern zusammen zu sein. Im Buch fällt die Betreuung und Erziehung der Kinder an die Großeltern. Doch die alten Männer schaffen sich irgendwann selbst einen Vorwand, um das Dorf verlassen zu können, indem sie tun, als würden sie in den Krieg ziehen müssen. Sie lassen nicht nur die Kinder zurück, sondern wohl auch ihre Frauen. Nach und nach gehen auch die wichtigen Personen des Dorfs und kommen nicht wieder: der Lehrer, der Pfarrer, der Automechaniker, die Besitzerin des Lebensmittelgeschäfts. Alle suchen ihr Glück woanders in der weiten Welt.
Die Eltern arbeiten irgendwo in einer Stadt und schicken den Kindern Pakete und Geschenke mit der Post. Manchmal wird auch telefoniert, aber mehr erfährt der Leser nicht, denn es kommt zu keiner Begegnung und es gibt auch keine Besuche. Für die Kinder ist das nicht nur bedrückend, sondern auch existenziell, denn die Nahrungsmittel werden knapp und es fehlt die Führung durch die Erwachsenen, die viele von ihnen noch benötigen.
Mit der Zeit fangen die Kinder an sich selbst in Banden zu organisieren und sich selbst Regeln zu geben. Hier hat der Roman tatsächlich einen Bezug zu Der Herr der Fliegen. Die Kinder versuchen es so zu machen, wie es die Erwachsenen tun würden, aber es geht schief. Die selbst aufgestellten Regeln spielen leider im Verlauf der Handlung eine eher untergeordnete Rolle und sie werden nicht halbwegs konsequent umgesetzt. Einerseits wird die Protagonistin für einen Diebstahl hart bestraft, andererseits nehmen sich die Kinder ständig Dinge, ohne zu fragen und ohne länger darüber nachzudenken. Mit der Zeit wird aus der Gemeinschaft eine zügellose Gruppe, die irgendwann sogar aus Langeweile tötet.
Trotz der vielfältigen Möglichkeiten, die die Rahmenhandlung bietet, ist es der Autorin in meinen Augen nicht gelungen, die spannende und bedrückende Atmosphäre aufzubauen, die das Buch haben soll. Mir fehlte ganz oft die Verzweiflung, die Angst, die Hoffnungslosigkeit und auch die Gruppendynamik. Angeblich soll in dem Buch so viel passieren und „ein System aus Gewalt und Macht“ entstehen dem sich „alle unterwerfen“ außer Mila. Ich frage mich in dem Moment, ob Menschen, die so etwas schreiben, eigentlich das gleiche Buch gelesen haben? Die Handlung in Wir verlassenen Kinder plätschert nur langsam dahin und es passiert eigentlich nicht sonderlich viel, abgesehen von einigen kurzen Schreckmomenten, die sich jedoch keinesfalls hochschaukeln. Manche Autorinnen und Autoren verstehen ganz subtil Spannung aufzubauen, die in den Köpfen der Leser entsteht, ohne dass man die Bedrohung konkret beschreiben muss. Ich bin kein großer Freund von Gewalt in Büchern, die allzu plump dargestellt wird. Die Fantasie kann sich Dinge oft viel besser ausmalen, als es ein Autor mit Worten vermag. Doch Spannung will in Wir verlassenen Kinder einfach nicht entstehen, was wohl vor allem am Erzählstil und an der Anonymität der Personen liegt, von denen man kaum etwas erfährt, nicht einmal den Namen.
Die Charaktere: unbekannt und unnahbar
William Goldings Der Herr der Fliegen lebt nicht zuletzt von einigen guten Hauptcharakteren, die man mag oder auch nicht. Im Roman Wir verlassenen Kinder gibt es diese Charaktere nicht. Sie haben nicht einmal Namen. Insgesamt sollen es ja 20 Kinder sein und nur von zweien sind tatsächlich ihre Namen bekannt, der Rest bleibt eine anonyme Masse, die als „Wir“ bezeichnet wird und nur im Kollektiv erzählt, was sie tun oder nicht tun. Die einzige eigenständige Hauptperson im Roman ist Mila, ein intelligentes Mädchen von etwa 14 Jahren, deren Gedanken und Gefühle der Leser detaillierter erfährt. Mila hat zwei Schwestern, die sie aber selbst nur als „die große Schwester“ und „die kleine Schwester“ bezeichnet, und einen Vater, der eben einfach nur „der Vater“ ist. Mehr erfährt man auch von ihm nicht. Mila gibt ihre Eindrücke wieder, ihr Leben mit dem jähzornigen Vater und den anderen Kindern im Dorf, die sie bewusst meidet und somit selbst zur Außenseiterin wird. Mila zieht sich gerne zurück und ist dennoch darauf bedacht etwas an den Lebensumständen im Dorf zu ändern, etwas besser zu machen und vielleicht die anderen Kinder und Jugendlichen vor sich selbst und ihrer Grausamkeit zu retten.
Andere Personen im Buch sind der Lehrer, der Pfarrer, die Ladenbesitzerin Grimmeisen, der Mechaniker, der Fleischhacker und der Bürgermeister, der gleichzeitig Milas Vater ist. Von den erwachsenen Personen erfährt man sonst kaum etwas außer, dass sie alle irgendwann dem Dorf den Rücken kehren und dann gelegentlich in einem Kapitel berichten, warum sie nicht zurückkommen werden. Den Erwachsenen scheinen die Kinder in weiten Zügen völlig egal zu sein. Einerseits ist das erschreckend, andererseits ist das auch wieder wenig überzeugend.
Neben Mila ist Juri der einzige Junge, dessen Name genannt wird. Er mag Mila gerne, aber sonst ist wenig über ihn bekannt. Er bleibt ein Name ohne weiteren Charakter. Es ist vermutlich nicht erwünscht, dass die Leser zu den Kindern eine irgendwie geartete emotionale Beziehung aufbauen und entsprechend egal sind sie mir auch gewesen. Einzig Mila bekommt etwas mehr mit auf den Weg. Aus ihrer Sicht werden die Dinge oft betrachtet und ihre Gefühle und Eindrücke machen die Geschichte erst halbwegs interessant. Das reichte mir aber nicht.
Der Schreibstil: einfache Sätze, wenig fesselnd
Der Schreibstil der Autorin ist sehr einfach gehalten. Die Sätze sind größtenteils sehr kurz und knapp, dennoch findet sich darin immer wieder eine ganze Reihe von Stilmitteln. Leider konnte Lucia Leidenfrost mit ihrem Erzählstil keine sonderlich beklemmende Atmosphäre aufbauen, die ich eigentlich erwartet hätte, um die Schrecken der ausweglosen Situation für die Kinder greifbar zu machen. Schade eigentlich.
Mein Fazit zu Wir verlassenen Kinder
Meiner Meinung nach hätte Wir verlassenen Kinder ein wirklich gutes Buch werden können, doch vieles wurde für mich nicht überzeugend umgesetzt. Eine hinreichend spannende Atmosphäre konnte sich bei mir nicht aufbauen, was nicht zuletzt an den oberflächlichen, blassen Charakteren lag, die nur wenig charakterlichen Tiefgang vorzuweisen haben. Der Mangel an Informationen mag bezüglich Zeitpunkt und Ort der Handlung sinnvoll und gewollt sei, bei den Charakteren ist es jedoch für meine Begriffe viel zu wenig gewesen. Ich bin damit nicht zurechtgekommen und es hat mich über weite Teile hinweg einfach nur gelangweilt, weil mich die Kinder und ihre Lage auch nicht interessiert haben.
Die Geschichte soll eine Parabel sein, ein Gleichnis, dessen Inhalt die Leser selbst entschlüsseln müssen. Sollte die Handlung beklemmende oder gar bedrohlich sein, dann habe ich den Personen im Buch vielleicht zu wenig Boshaftigkeit zugetraut oder ich habe die Autorin und ihre Aussage generell einfach nicht verstanden. In weiten Teilen war der Rahmen für mich wenig glaubhaft. Das fing beim Verhalten der Kinder an und ich konnte auch die Intentionen der Erwachsenen absolut nicht nachzuvollziehen.
Die Personen im Buch waren mir völlig egal, ebenso ihre Taten und was in Zukunft aus ihnen werden wird. Ich benötige keine Gewaltdarstellungen für eine fesselnde Handlung, aber selbst subtile, drohende Gewalt, die mich wenigstens ansatzweise aufwühlt, konnte ich in dem Buch kaum finden. Absolut nichts wirkte auf mich bedrohlich, abgesehen von den „Blechvögeln“, die insgesamt 23 Mal erwähnt wurden.
Ein Gedanke zu “Wir verlassenen Kinder von Lucia Leidenfrost”